Thema „Graue Wölfe“ – Wurzeln des türkischen Rechtsextremismus
Ein Vater wendet sich an die Beratungsstelle Extremismus, weil sich seine Tochter Demonstrationen rechter türkisch-nationalistischer Gruppierungen anschließt. Eine Lehrerin weiß nicht, wie sie mit Burschen in ihrer Klasse umgehen soll, die den „Wolfsgruß“ zeigen. Eine soziale Einrichtung berichtet von Zeichen der „Grauen Wölfe“ auf den Mauern im Hinterhof. – Spätestens seit 2017 erreichen die Beratungsstelle Extremismus immer wieder Anrufe vor allem von LehrerInnen und JugendsozialarbeiterInnen zur Thematik der „Grauen Wölfe“. Die meisten AnruferInnen sind verunsichert – in vielen Fällen allein aus dem Grund, dass sie zu wenig Wissen über die Gruppierung der „Grauen Wölfe“ haben. Unterschiedliche Jugendeinrichtungen sowie vereinzelte Schulen haben sich deshalb in den letzten Jahren an die Beratungsstelle gewandt, weil sie eine Unterstützung im pädagogischen Setting brauchten –, vor allem dann, wenn die Sympathie für die „Grauen Wölfe“ mit Gewaltbereitschaft einherging.
Ende Juni 2020 eskalierte die Situation in Wien Favoriten und das Thema bekam mediale Aufmerksamkeit. Seitdem hat die Beratungsstelle Extremismus vier neue Fälle, die mit türkischem Rechtsextremismus zu tun haben. Es geht um fachliche Beratung zur Sozialarbeit im Öffentlichen Raum im Umgang mit extremistischen Gruppierungen, um rechtliche Auskünfte und um besorgte Eltern.
Was verbirgt sich hinter der rechtsextremen Gruppierung „Graue Wölfe“?
Ursprünge des türkischen Rechtsextremismus
Der türkische Rechtsextremismus kann auf den Zerfall des Osmanischen Reiches im frühen 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt werden. Mitte des 19 Jahrhunderts war das Osmanische Reich bereits stark destabilisiert und begann sich aufzulösen. Vor allem durch Aufstände und Unabhängigkeitsbewegungen hatte es einen großen Teil seines Gebietes eingebüßt. Patriotisch gesinnte Militärs und Intellektuelle wollten diesem gefühlten Niedergang etwas entgegensetzen und gründeten die Bewegung der „Jungtürken“, welche 1908 die Macht übernahm.
Die Unabhängigkeitsbestrebungen „nicht-türkischer Völker“ wurden von ihnen als „Verrat“ am gemeinsamen „osmanischen Vaterland“ gesehen und setzten daher viele der im Osmanischen Reich verbliebenen Minderheiten unter Druck. Ein trauriger Höhepunkt dieser Politik war der Völkermord an den ArmenierInnen während des Ersten Weltkrieges mit bis zu 1,5 Millionen Opfern.
Im Zuge der Umbruchssituationen, Krisenerscheinungen und Unsicherheiten wurden unterschiedliche nationalistische und rassistische Ideologien sowie Ideen von einem „Großtürkischen Reich“ immer stärker: der Turanismus sowie der Panturkismus entstanden. Der Zusammenhalt des Reiches sollte anstatt über die religiöse Identität durch ethnische Kriterien hergestellt werden. Die verschiedenen ethnischen Gruppierungen sollten zu einem gemeinsamen „Türkentum“ verschmelzen.
Zerfall des Osmanischen Reiches
Die Niederlage des Osmanischen Reiches und die Kapitulation des Sultans besiegelten das Ende des Ersten Weltkrieges. Die europäischen Siegermächte planten eine vollständige Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches. Gestützt durch Teile der muslimischen und türkischen Bevölkerung in Anatolien entschlossen sich Teile der osmanischen Armee, angeführt durch General Mustafa Kemal Atatürk, den militärischen Kampf fortzusetzen. Der sogenannte „Befreiungskrieg“ führte schließlich 1923 zur Gründung der Türkischen Republik. Die neue Republik sollte eine Republik nach europäischem Vorbild werden mit einer strikten Trennung von Staat und Religion und einer außenpolitisch möglichst neutralen Position. Durch die Alleinherrschaft der Republikanischen Volkspartei und die Ausschaltung der Opposition glich die Türkei allerdings einer zentralistischen Ein-Parteien-Diktatur.
Turanismus und Panturkismus
Erst in den 1960er Jahren erfolgte die politische Öffnung. Im pluralistischen Parteienspektrum wurden allerdings auch unterschiedliche nationalistische Ideologien wiederbelebt. Die Ülkücü („Die Idealisten“) Bewegung entstand, aus welcher schließlich auch die MHP (Milliyetçi Hareket Partisi) und die Grauen Wölfe hervorgingen.
Der ideologische Ausgangspunkt der Ülkücü-Bewegung sind die Ideologien des Turanismus und des Panturkismus bzw. Turkismus. Historisch war das Ziel die Gründung eines Großtürkischen Reiches, angelehnt an das fiktive „Reich von Turan“, das sich vom Balkan über Zentralasien bis in die heutige Volksrepublik China erstrecken sollte. Zentral ist dabei die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit und Überlegenheit der sogenannten „Turkvölker“ gegenüber anderen Völkern. Jegliche Rechte von Minderheiten werden negiert, nicht-türkische Ethnien sollten assimiliert oder vernichtet werden. Das betrifft vor allem die Rechte von KurdInnen und ArmenierInnen. Weit verbreitet sind außerdem antisemitische Positionen. Die Organisationen der Ülkücü-Bewegung sind nach dem Führerprinzip (Basbuğ) organisiert und orientieren sich an Alpaslan Türkeş, dem „ewigen Führer“. Dieser gründete 1961 die Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi – MHP) und stand ihr mehr als 30 Jahre vor. Von ihm festgelegte Prinzipien werden als unfehlbar angesehen und dürfen auf keinen Fall hinterfragt werden.
Seit den 1990er Jahren spielt außerdem der Islam eine zunehmend wichtige Rolle innerhalb der MHP. Im Jahr 1992 spaltete sich die Große Einheitspartei (Büyük Birlik Partisi – BBP) von der MHP ab, welche im Gegensatz zum ursprünglich säkularen völkischen Rechtsextremismus der MHP im Islam einen wichtigen Teil der türkischen Identität sieht. Mittlerweile islamisiert sich allerdings auch zunehmend die MHP.
Graue Wölfe
Mit „Grauen Wölfen“ sind in der Alltagssprache meist Anhänger der MHP gemeint. Im engeren Sinne meint dieser Begriff aber nur die Mitglieder paramilitärischer Kommandos, die seit den späten 1960er Jahren in der Türkei die Gewalt auf den Straßen aufheizten und für zahlreiche Pogrome gegen Minderheiten und (politische) Morde (mit)verantwortlich sind. In den 1970er Jahren herrschten in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände. In sogenannten „Kommando-Lagern“ wurden Jugendliche von ehemaligen Armee-Offizieren paramilitärisch ausgebildet. Die personelle und infrastrukturelle Grundlage für den Aufbau der Kommandos der Grauen Wölfe bildete vor allem die offizielle MHP-Jugendorganisation (Gençlik Kolları). Geheimdienste und staatliche Stellen griffen vor allem im Konflikt mit der PKK auf diese Kreise zurück, um Gegenguerillas aufzubauen. Diese Verbindungen werden in der Türkei unter dem Begriff „tiefer Staat“ beschrieben. Berühmtester Vertreter der Grauen Wölfe ist wohl Mehmet Ali Ağca, der 1981 einen Anschlag auf Papst Johannes Paul II verübte. Aber auch in den letzten Jahren werden (politische) Morde immer wieder den „Grauen Wölfen“ zugeschrieben.
Die Grauen Wölfe in Österreich
Polit-religiöse Organisationen mit Türkei-Bezug spielen aufgrund des hohen Anteils von türkischstämmigen MigrantInnen in Österreich eine große Rolle. Das bedeutendste Netzwerk bildet dabei Milli Görüs (Nationale Sicht), die in Österreich unter dem Namen Avusturya Islam Federasyonu (Österreichische Islamische Föderation) auftritt. Daneben stellt die ATIB, die vom türkischen Amt für Religion geleitet wird, die zweitgrößte Organisation dar.
Aber auch die MHP und die BBP verfügen in Österreich über ein Netzwerk an Institutionen. Der österreichische Ableger der MHP ist der Dachverband der Österreichischen Türkischen Föderation (Avusturya Türk Federasyon), der ATF. Der Dachverband betreibt verschiedene Lokale und Gebetsräume und ist, wie auch der Ableger von Milli Görüs und die ATIB, Mitglied der IGGiÖ, der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, welche die offizielle Vertretung für religiöse Belange von MuslimInnen ist.
Der Dachverband Nizam-i Alem (Weltsystem), welcher Verbindungen zur BBP hält, ist zwar klein, aber wächst stetig und betreibt mehrere Vereinslokale und Gebetsräume.
Jugendliche und die Ideologie der Grauen Wölfe
Ein Schwerpunkt der Ülkücü-Bewegung und ihren Ableger ist die Jugendarbeit (Bozkurt). Junge Menschen werden über unterschiedliche sportliche und kulturelle Aktivitäten erreicht. Dabei steht die ethnische Identität der Jugendlichen stark im Vordergrund und wird idealisiert. Im Gegensatz dazu wird Österreich als das feindliche Fremde stilisiert. Angeknüpft wird dabei an Erfahrungen mit struktureller Diskriminierung, welche viele Jugendliche erleben. Auch bei politischen Aktivitäten, wie beispielsweise Demonstrationen gegen die Anerkennung des Genozids an den ArmenierInnen, werden Jugendliche als Ordner eingesetzt.
Der erste Kontakt von Jugendlichen mit der Ideologie der Grauen Wölfe erfolgt oft über Musik und in subkulturellen Jugendszenen. Dabei spielen zunehmend „Rockergruppierungen“, wie die „Osmanen Germania“ eine wesentliche Rolle, meist in Verbindung mit nationalistischer Rap-Musik. Die „Osmanen Germania“ haben mittlerweile einen Ableger in Wien. Eine wesentliche Rolle in diesen Jugendszenen spielen das Prinzip der soldatischen Männlichkeit und Werte wie Ehre, Loyalität und Aufopferung, welche die Szenemitglieder zu „Kameraden oder Brüdern“ machen soll. Gewalt spielt vor allem bei bewussten Konfrontationen mit jungen SympathisantInnen der PKK eine entscheidende Rolle.
Prävention und Intervention
Extremistische Gruppierungen greifen die Bedürfnisse von Jugendlichen nach Zugehörigkeit, Geborgenheit, Orientierung und Sinn auf und instrumentalisieren diese für ihre politischen Zwecke. Bei wiederkehrenden Frustrationserlebnissen, mangelnden alternativen Beziehungsangeboten und fehlenden Perspektiven kann ein Radikalisierungsprozess genährt werden, der schlussendlich zu Gewaltbereitschaft führen kann.
Der Politologe Thomas Schmidinger im Falter-Podcast zu den Geschehnissen in Wien Favoriten im Juni 2020: „Sowohl ökonomische als auch soziale Probleme als auch der Alltagsrassismus und der strukturelle Rassismus in diesem Land bieten gewissermaßen einen Nährboden, auf dem unter anderem rechtsextreme nationalistische Ideologien ganz gut gedeihen. Wenn man nichts hat, auf das man sonst stolz sein kann, dann ist das relativ attraktiv, wenn einem jemand auf die Schulter klopft und sagt: Sei wenigstens stolz, Türke zu sein.“
In Beratungs-Settings geht es darum, einen Zugang zu den sogenannten radikalisierten Jugendlichen zu finden. Dazu ist es unabdinglich, Anerkennung und Akzeptanz für die Lebenswelt der Jugendlichen aufzubringen – unabhängig von ihrem Verhalten und von ihren Einstellungen. Das heißt allerdings nicht, dass problematische Aussagen ignoriert werden sollen. Ganz im Gegenteil, es meint, in einen Dialog zu treten und immer wieder nachzufragen: Was meinst du genau? Warum ist dir das wichtig?
Eigene klare (politische) Positionen zu beziehen, ist in diesem Dialog von Vorteil. Diese sollten transparent gemacht werden, aber ohne Jugendlichen dabei das Gefühl zu vermitteln, dass ihre eigenen Positionen nichts wert sind. Auf diese Weise können Jugendliche erfahren, dass verschiedene Auffassungen nebeneinander bestehen können und ein Dialog möglich ist.
Unsere Beratung erfolgt ressourcen- und lösungsorientiert. Die Ratsuchenden werden grundsätzlich als ExpertInnen für sich und ihre Lebensgestaltung gesehen, die Stärken und Fähigkeiten zur Lösung ihrer Probleme haben. In den Beratungsgesprächen geht es darum, Ressourcen (eigene und die der Umwelten), die in einer schwierigen Situation oftmals nicht wahrgenommen werden, aufzudecken und wieder nutzbar zu machen. Die Beratung ist prozessorientiert, gemeinsam werden die Schritte, die zu einer gewünschten Veränderung führen sollen, erarbeitet.
Literatur und Quellen
Thomas Rammersdorfer (2018): Graue Wölfe. Türkische Rechtsextreme und ihr Einfluss in Deutschland und Österreich. LIT Verlag.
Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung Oberösterreich (Hg.), von Kemal Bozay,, Thomas Rammerstorfer, Thomas Schmidinger (2012): Grauer Wolf im Schafspelz: Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft. edition sandkorn.
Kermal Bozay (2017): Graue Wölfe – die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland.
https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/260333/graue-woelfe-die-groesste-rechtsextreme-organisation-in-deutschland
Mehmet Ö. Alkan (2014): Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei.
https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184976/vom-reich-zur-republik
Graue Wölfe in Favoriten – #356
FALTER-Radio. Der Podcast mit Raimund Löw
https://www.falter.at/falter/radio/4d9eb891-9cf9-4cdf-9c04-b53a8504636e/graue-wolfe-in-favoriten-356
Anhang
Der Wolf und der Wolfsgruß
Der Wolf, das wichtigste Erkennungssymbol türkischer Rechtsextremistinnen, spielt eine zentrale Rolle in der türkischen Mythologie. Ein blaugrauer Wolf soll einst das „urtürkische Volk“ aus dem Ergenekon-Tal geführt haben. Dorthin hatte es sich zurückgezogen, nachdem es von seinen chinesischen Feinden besiegt worden war.
Ein anderer Mythos erzählt von einem Jungen, der als einziger Überlebender seines Stammes von einer Wölfin aufgenommen wurde. Aus dieser Vereinigung sollen 10 Kinder hervorgegangen sein, die „Urväter“ der 10 Stämme, welche das erste Türkische Reich gebildet haben sollen.
Beim Wolfsgruß werden Mittel- und Ringfinger einer Hand auf den Daumen gepresst und sollen die Wolfsschnauze bilden. Zeigefinger und kleiner Finger werden, als Ohren des Wolfes, in die Höhe gestreckt. Der Gruß gilt als gegenseitiges Erkennungszeichen, aber auch zur (politischen) Provokation.
Drei Halbmonde
Drei Halbmonde auf rotem Grund, das ist das offizielle Symbol der rechtsextremen Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi), der MHP. Dieses Symbol bezieht sich auf die Kriegsflagge der osmanischen Armee und symbolisiert die drei Kontinente über die sich das osmanische Reich gestreckt hat.