Thema “Verschwörungsideologien in Zeiten der Corona-Krise”
Eine Analyse anhand von Fällen der Beratungsstelle Extremismus
Von Alexander Fontó, Verena Fabris und Fabian Reicher, unter Mitarbeit von Liam Adamson und Katharina Danner
Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen
In Krisenzeiten haben Verschwörungserzählungen Konjunktur. Das zeigt auch die seit Beginn des Jahres 2020 andauernde Corona-Pandemie. Insbesondere über Soziale Medien werden Menschen auf unterschiedliche Art und Weise von Verschwörungsmythen und -erzählungen beeinflusst. Dabei finden sowohl Elemente historischer Verschwörungserzählungen als auch rechtsextreme, esoterische und alternativ-medizinische Narrative weite Verbreitung. Die Lebensrealität vieler Menschen änderte sich durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen mitunter massiv. (Drohende) Arbeitslosigkeit und damit verbundener Existenzverlust, soziale Isolation und alle möglichen damit verknüpften Ängste haben viele Menschen empfänglicher für Verschwörungserzählungen gemacht. Ein Grund dafür ist die Entlastungsfunktion von Verschwörungserzählungen. Sie bieten einfache Welterklärungen und geben damit Ordnung und Struktur in einer zunehmend als unübersichtlich und überfordernd empfundenen Lebensrealität. Ver-schwörungserzählungen geben kurzfristig das Gefühl, Kontrolle über das eigene Leben wieder zu gewinnen und verleihen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit durch den Protest gegen die vermeintlich Schuldigen.
In diesem Artikel wenden wir uns der Auswertung und inhaltlichen Analyse jener Fälle zu, die im Verlauf der Corona-Pandemie an die Beratungsstelle Extremismus herangetragen wurden. Ziel ist es vor allem, ein besseres Verständnis für Gemeinsamkeiten und Hintergründe von Radikalisierungsverläufen zu finden.
Darstellung in Zahlen
In der Beratungsstelle Extremismus dokumentieren wir eine steigende Zahl von Kontaktaufnahmen im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen[1], diese machen aktuell (März 2022) mehr als ein Viertel aller Kontaktaufnahmen aus. Im Zeitraum von März 2020 bis einschließlich Dezember 2021 führten wir 133 Erst- und 63 Folgeberatungen im Kontext von Verschwörungserzählungen durch (23 davon in persönlichen Beratungsgesprächen). Involviert waren insgesamt 144 Personen.[2] Das Beratungsangebot wurde aus ganz Österreich in Anspruch genommen. So gaben 35,8 % an, ihren Lebensmittelpunkt in Wien zu haben, gefolgt von Oberösterreich (10,5 %), Niederösterreich (9 %), Steiermark (3,8 %), Salzburg und Tirol (jeweils 2,3 %), Burgenland (1,6 %), Vorarlberg und Kärnten (jeweils 0,7 %). 2,3 % der Kontakte kamen aus Deutschland, bei 30,8 % der Kontakte aus Österreich war das Bundesland nicht ersichtlich.
Den überwiegenden Teil der Personen, die sich an die Beratungsstelle Extremismus wandten, machen sogenannte Sekundärbetroffene aus[3]. Die mit Abstand größte Gruppe kam aus dem familiären Umfeld von Menschen, die Verschwörungserzählungen in ihr Weltbild übernommen hatten: Angehörige und Familienmitglieder machen 79 % der Kontaktaufnahmen aus. Dieser Gruppe folgen ArbeitskollegInnen und Menschen aus dem sozialen Nahbereich bzw. Bekannte und Freunde (jeweils 8,3 %) sowie Personen aus dem Kontext Schule (0,7 %). 3,7 % der Personen, die sich an die Beratungsstelle wandten, gaben an, selbst davon Betroffen zu sein bzw. konfrontierten die BeraterInnen mit verschwörungsideologischen Inhalten (Primärbetroffene).
55,6 % der Ratsuchenden waren weiblich und 43,6 % männlich. 0,8 % der Personen identifizierten sich als divers.
Bei den primärbetroffenen Personen waren 48,6 % männliche und 50,7 % weibliche Betroffene. Zu 0,7 % der Betroffenen liegt keine Information über das Geschlecht vor.
Auch wenn wir das genaue Alter dieser Personengruppe nicht erhoben haben, können wir sagen, dass unter den Primärbetroffenen so gut wie keine Jugendlichen, sondern beinahe ausschließlich Erwachsene waren. Studien[4] belegen, dass die Radikalisierung von Menschen im Kontext von Corona-bezogenen Verschwörungserzählungen vor allem Personen in der mittleren Lebenshälfte betrifft.
Zum Bildungsgrad sowie zur soziokulturellen Herkunft der Personen lagen keine ausreichenden Daten vor, sodass diese Daten nicht in die Analyse miteinfließen konnten.
Aus Studien wissen wir jedoch, dass das Ausbildungsniveau deutlich über dem Durchschnitt liegt und die Gruppe der Selbständigen überrepräsentiert ist.[5] In den Fällen, in denen wir Informationen zu den Betroffenen erhalten haben, deuten diese in eine ähnliche Richtung.
Methodische Zugänge
Neben den soziodemographischen Daten spielten in der Analyse inhaltliche Merkmale eine wesentliche Rolle. So wurde erhoben, seit wann die Personen, die sich an die Beratungsstelle Extremismus gewandt haben, die Situation als belastend und problematisch erleben und welche von ihnen genannten Einstellungen, Handlungen und Inhalte schließlich dazu geführt haben, sich bei uns zu melden.
Im Anschluss wurden sogenannte „Cluster“[6] gebildet. Die Cluster sind nicht ausschließend, das heißt es sind Mehrfachzuordnungen möglich. [7] Auf dieser Basis wurde der Versuch unternommen, Radikalisierungsprozess nachzuzeichnen Zu betonen ist, dass es sich hierbei um eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring[8] anhand vorhandener Datensätze handelt – in die Analyse aufgenommen wurden ausschließlich die Beschreibungen der Ratsuchenden – und es keine statistische Erhebung und Befragung nach quantitativen Standards ist.
Die gesellschaftspolitische Ebene – eine Darstellung in Peaks
Radikalisierung ist ein individueller Prozess, bei dem unterschiedliche Bedürfnisse und Erfahrungen eine Rolle spielen. Die Ebene der Gesellschaft, also der Rahmen in dem solche Prozesse stattfinden, ist dabei immer zu berücksichtigen. Auch bei unseren Beratungen konnten wir beobachten, welche gesellschaftspolitischen Ereignisse einen großen Einfluss auf die betroffenen Personen hatten. Bereits vor der dem Auftreten der Pandemie in Europa und den damit einhergehenden Maßnahmen gab es Ereignisse, wie jene der US-Wahl, die für die Betroffenen eine Rolle spielten und die zum ersten Mal Verschwörungserzählungen zum Thema machten. Allerdings war der Leidensdruck in den meisten Fällen zum damaligen Zeitpunkt für die Angehörigen nicht groß genug, um Hilfe zu suchen. Das änderte sich bei vielen Menschen mit Beginn des ersten Lockdowns.
Im Diagramm handelt es sich um eine Darstellung von sogenannten „Peaks“. Peaks sind Ereignisse, die von den Ratsuchenden als relevant genannt wurden und die folgend in einer Zeitachse geordnet dargestellt sind.
Die größte Anzahl an Personen, die sich an die Beratungsstelle Extremismus wandte, bezeichnet den Beginn der Corona-Pandemie in Europa, als jenen markanten Punkt, an dem es zu ersten Auseinandersetzungen und Differenzen zwischen Primär- und Sekundärbetroffenen kam, die nach und nach den Leidensdruck erhöhten.
Im Verlaufe des Jahres und des Fortschreitens der Pandemie gewannen die Anti-Corona-Maßnahmen-Proteste und/oder das Mobilisieren für österreichweite Demonstrationen an Relevanz und waren somit immer wieder Thema der Diskussionen und Auseinandersetzungen unter den Betroffenen. Dies steigerte sich nochmals vermehrt, als es zu den ersten Impfungen im Jahre 2021 kam. Hier ist zu beobachten, dass das Thema Impfung neben den Corona-bedingten Maßnahmen in den Mittelpunkt rückte. So berichtete ein großer Anteil der Ratsuchenden, dass sich in diesem Zeitraum die Konflikte häuften und/oder sie zu diesem Zeitpunkt aufbrachen. Die Situation spitzte sich bis zur Ankündigung der Impfpflicht vielerorts zu und mündete in konkreten Widerstandsäußerungen gegenüber der Impfpflicht bis hin zu angekündigtem Märtyrertum. Hier berichteten Ratsuchende von Kontaktabbrüchen weiteren Handlungsmustern, auf die wir weiter unten eingehen.
Dies lässt sich auch anhand unserer Kontaktaufnahmen beobachten, welche im Diagramm entlang einer Zeitachse dargestellt werden.
Wege in die Radikalisierung
In den Sozialwissenschaften gibt es unterschiedliche Zugänge und Erklärungsversuche von „Radikalisierung“. Einig sind sich die meisten darin, dass es sich um einen Prozess handelt, der nicht linear und in vielen kleinen Schritten verläuft. Es beginnt mit einer Art Unmut, ausgelöst durch externe Ursachen, aber auch durch biographische Brüche. Bei diesem Unmut setzen Verschwörungserzählungen an, geben ihm einen Sinn, benennen Schuldige und bieten einfache Lösungen an. Der „Call to Action“, das Angebot auf der Handlungsebene unterscheidet sich je nach Erzählung und Gruppe. Dadurch kann es zu einer weiteren Entfremdung vom sozialen Umfeld, aber auch zur Gesellschaft als Ganzer kommen, wodurch sich der Blickwinkel verengt und man dem Hinterfragen des eigenen Weltbildes nicht mehr zugänglich ist.[9]
Für die Analyse von Radikalisierungsprozessen bezieht sich die Beratungsstelle Extremismus auf das Identitätsmodell von Hilarion Petzold. Wir gehen davon aus, dass sich die Identität eines Menschen auf folgende fünf Säulen stützt: die Säule der Leiblichkeit (Körper/Psyche), das soziale Netzwerk (Familie, Freunde/innen, soz. Nahbereich), Leistung, Perspektive/Sinn und Werte/Ideale. Diese Säulen sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern stehen miteinander in Beziehung. Wird eine der Säulen stärker oder schwächer, hat das Auswirkungen auf die anderen. Beeinflusst werden die Säulen auch von strukturellen, globalen politischen und ökonomischen Faktoren (z.B. Materielle Sicherheit, Krieg, Trauma, Migrationsgeschichte etc.). Identität entwickelt und verändert sich im Laufe des Lebens und jeder Mensch durchläuft Identitätskrisen. In der Sozialen Arbeit wird dies auch als Vulnerabilität (Verletzlichkeit, Verwundbarkeit) definiert[10]. Identität ist also kein starres Konstrukt, sondern ein lebenslanger Prozess. Je instabiler und brüchiger die jeweiligen Säulen der Identität sind, desto instabiler ist die Identität selbst. In Krisenzeiten können Betroffene ihre Identität durch die Hinwendung an eine extremistische Erzählung stabilisieren.[11]
Auch in unseren Beratungen konnten wir einige Faktoren und Einflüsse ausmachen, die in den später erläuterten Entwicklungen und Verläufen eine Rolle spielen. So gaben die Personen, die sich an uns wandten, an, dass sich 13 % der Betroffenen bereits vor dem Aufkommen der Corona-Krise öfter „systemkritisch“[12] äußerten oder als systemkritisch wahrgenommen wurden. 25 % der Betroffenen wurden als an Alternativmedizin interessiert bzw. esoterisch/spirituell/religiös[13] beschrieben und 2,1 % als rechtsextrem bis offen gegenüber rechten Inhalten[14]. 2,8 % wurden zuvor als eher links beschrieben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass von einem Viertel aller Pimärbetroffenen berichtet wird, dass sie immer schon eine Affinität zu Esoterik/Spiritualität oder Alternativmedizin hatten, was aber erst im Zuge der Corona-Pandemie als problematisch beschrieben wurde.
Persönliche Krisen verstärken mitunter Radikalisierungsprozesse. So waren 27 % der Primärbetroffenen von einer maßnahmenbedingten (drohenden) Arbeitslosigkeit[15] betroffen. 5,5 % der Betroffenen wurden als sozial isoliert beschrieben[16]. Einige Personen berichten von weitläufigen Existenzbedrohnungen[17]. Bei 27,8 % der Betroffenen sind zudem biographische Brüche bzw. belastende Lebensumstände[18] beobachtbar. Insgesamt wurden bei 40,2 % aller Personen, die an Verschwörungserzählungen glauben, persönliche Krisen wie Arbeitslosigkeit, Tod eines nahen Angehörigen, Erkrankung oder ähnliches beschrieben. Bei den restlichen 58,8 % wurden von den Ratsuchenden keine dementsprechenden Angaben gemacht.
Ideologien als Teil des Radikalisierungsprozesses
Verschwörungsideologien nehmen innerhalb von Radikalisierungsprozessen eine sogenannte „Scharnierfunktion“ ein, da sie durch ihre verkürzte Form von Kritik, das Konstruieren von Feindbildern im Inneren und Äußeren sowie ein dualistisches Weltbild („Wir“ und „die Anderen“) Anknüpfungspunkte zu extremistischen Erzählungen bieten[19]. Dies kann in weiterer Folge zu Ausgrenzung und Diskriminierung führen und befördert gängige Ressentiments. Extreme Positionen können somit verstärkt werden und zu einer Immunisierung gegenüber Argumenten und offenen Diskussionen führen. In letzter Konsequenz können dauerhafte Abwertungen und die Verstärkung von Gruppengrenzen auch zu einer Legitimierung von Gewalt führen. Gewalt wird hier als letzte Möglichkeit gesehen, um sich gegen die Verschwörung zur „Wehr“ zu setzen.
Auch bei unserer Analyse zeigt sich, dass extremistische Ideologien im Laufe der Corona-Pandemie eine bedeutende Rolle spielten. Unter extremistischen Ideologien verstehen wir im weitesten Sinne politische Haltungen, die demokratische Rechte und die Menschrechte einseitig benützen, abwerten bzw. ablehnen[20] und bereit sind, ihre Überzeugungen auch mit Gewalt durchzusetzen. Gewalt umfasst dabei die Befürwortung, Duldung, Androhung, Anstiftung oder Propagierung von physischer und psychischer Gewalt bezogen auf Personen, Strukturen und Institutionen.
So gaben 6,8 % der Ratsuchenden an, dass das Aufkommen von rechtsextremen und antisemitischen Aussagen und Positionen den Leidensdruck erhöhte und ausschlaggebend dafür war, Hilfe seitens einer Beratungsstelle in Anspruch zu nehmen. 13,9 % der Personen, die sich an die Beratungsstelle wandten, gaben im Laufe des Beratungsprozesses an, dass wiederholt antisemitische Äußerungen[21] getätigt wurden. Bei 21,5 % handelte es sich um rechtsextreme Aussagen[22]. 2,1 % der Betroffenen bezogen sich positiv auf den historischen Nationalsozialismus[23]. Ebenfalls 2,1 % nahmen Bezug auf die Reichsbürger-Bewegung[24] oder bestimmten Elementen davon. In 8,3 % der Fälle identifizierten sich Personen mit der QAnon-Erzählung.[25] Auffällig ist die Verknüpfung von Rechtsextremismus und Verschwörungsdenken: Bei mehr als jeder fünften Person wurde über rechtsextremes Gedankengut berichtet.
Gründe für die Kontaktaufnahme
Neben für die Ratsuchenden problematischen rechtsextremen Äußerungen war die Sorge um Kinder (gemeinsame Kinder, Neffen, Nichten etc.) in 14,6 % wesentlich für die Kontaktaufnahme mit der Beratungsstelle Extremismus. Konflikte rund ums Impfen waren in 23,3 % der Fälle ein ausschlaggebender Grund, in 5,3 % ging es um generelle Maßnahmenverweigerung. In 16,5 % war die Sorge vor Entfremdung bis hin zum drohenden Kontaktabbruch wesentlich. In 2,3 % wurde gewalttägiges Verhalten befürchtet. Weitere Gründe für eine Kontaktaufnahme waren: Konflikte in der Beziehung (6,8 %), Missionierung (6,8 %), Sorge um Straffälligkeit (2,3 %). 19,5 % der Ratsuchenden machten keine spezifischen Angaben zu den Gründen ihrer Kontaktaufnahme.
Persönliche Veränderung
Die zunehmende Ideologisierung durch den Konsum von Verschwörungserzählungen führte bei einer großen Anzahl der Fälle auch zu einer weiteren Entfremdung – ein wesentlicher Aspekt in Radikalisierungsprozessen. Ratsuchende berichteten in 20,1 % der Fälle von einer Isolierung, die teilweise zum kompletten Kontaktabbruch mit den Angehörigen führte. Immer wieder hatte die Entfremdung eine Verengung des Blickwinkels zur Folge, die Betroffenen bauten ihre Identität zu einem Großteil auf Inhalten von Verschwörungserzählungen auf, was auch damit zu tun hat, dass Verschwörungserzählungen fast ausschließlich auf Social Media konsumiert wurden.
Handlungsebene
Die Entfremdung der Betroffenen wird durch einen sogenannten „Call to Action“ verstärkt, zum Beispiel durch Aufrufe, sich gegen die Maßnahmen „zur Wehr zu setzen“. Dabei ging es vor allem um die Verweigerung der Corona-Maßnahmen (13,9 %) im jeweiligen Kontext. War es zu Beginn der Pandemie der Lockdown, wurde schon bald gegen das Tragen von Masken, gegen das Testen und schließlich gegen das Impfen agitiert. In 4,2 % der Fälle war die Leugnung der Pandemie Thema. Neben der Verweigerung der Maßnahmen wurden die Menschen auch dazu angehalten, andere „aufzuklären“. In 9,7 % der Fälle spielte die Missionierung online oder offline eine entscheidende Rolle. Vor allem missionarische Tätigkeiten in Familienchats führten zu einer zusätzlichen Entfremdung der Personen von ihrem jeweiligen Umfeld. in 9,7 % der Fälle spielte die regelmäßige Teilnahme und/oder
(Mit-)Organisation von Demonstrationen gegen die Corona Maßnahmen eine große Rolle. In 14,6 % der Fälle bezogen sich die Konflikte vor allem auf (Enkel-)Kinder, Nichten/Neffen oder jüngere Geschwister und die Sorgen vor deren Indoktrination durch ihre Eltern. In einigen Fällen (3,5 %) wurden Kinder (gegen ihren Willen) aufgrund unterschiedlicher Corona-Maßnahmen von der Schule genommen und daheim unterrichtet oder durften nicht mehr in den Kindergarten gehen. Kinder wurden zu Demonstrationen mitgenommen, es wurde ihnen das Maske-Tragen verboten und/oder der Kontakt zu geimpften Personen, auch zu ihren engsten Verwandten, verwehrt.
Im November 2021, nachdem der Lockdown für Ungeimpfte sowie die Impflicht beschlossen worden war, verschärfte sich die Situation noch einmal drastisch. Bei zwei Fällen ging es ums sogenannte „Preppen“ mit Bezug zu einem „Tag X“[26], bei 7 % ging es um eine allgemeine „Widerstand gegen die Impfpflicht“ in zwei Fällen sogar um sogenanntes „Impf-Märtyrertum“, also die angedrohte Selbst- und/oder Fremdverletzung im Kontext der Umsetzung der Impfpflicht.
Präventionsansätze am Beispiel der Beratungsstelle
Die Arbeit der letzten zwei Jahre mit Personen, die Verschwörungserzählungen anhängen, hat gezeigt, dass die Radikalisierung von Personen im Kontext von Verschwörungserzählungen ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Neben individuellen Erfahrungen, Bedürfnissen und biographischen Brüchen spielen vor allem die Corona-bezogenen Maßnahmen, ihre Kommunikation und die öffentliche Diskussion darüber eine entscheidende Rolle. Dichotome Schwarz-Weiß Diskurse sind immer radikalisierungsfördernd, fehlende Transparenz und politische Inszenierungen führen zu einem Vertrauensverlust. Der zunehmende gesellschaftliche Druck auf die äußerst heterogene Gruppe der Ungeimpften beschleunigte in vielen Fällen Radikalisierungsprozesse und die Identifizierung mit dem “Wir” im Gegensatz zu „den Anderen”. Das Gefühl der Stigmatisierung spielte in den wenigen Fällen, in denen es um angedrohte Selbst- und/oder Fremdverletzung ging, eine zentrale Rolle. Gewalt wurde hier als letzte Möglichkeit gesehen, um sich gegen die Verschwörung zur „Wehr“ zu setzen.
Im Umgang mit Personen, die Verschwörungserzählungen anhängen, raten wir dazu, Aussagen bewusst wahrzunehmen, ohne abzuwerten oder bloßzustellen, aber auch eigene Standpunkte klar zu vermitteln und dem Gegenüber klar zu machen, worüber man sich Sorgen macht. Es ist wichtig, sich gegen rassistische, antisemitische oder antidemokratische Aussagen zu positionieren, eigene Grenzen wahrzunehmen und sie zu kommunizieren und einzuhalten. Diskussionen über Fakten und Daten sind eher zu vermeiden, da dies meist den Widerstand noch verstärkt. Viel wesentlicher ist es über Gefühle und Ängste zu sprechen.
Hierzu haben wir neben einer Handreichung[27] mehrere Thementexte[28] verfasst, sowie einen Podcast[29] produziert.
Außerdem besteht immer die Möglichkeit, Beratungen in unserer Beratungsstelle in Anspruch zu nehmen, um die Situation gemeinsam zu analysieren und mögliche Handlungsschritte zu besprechen. Seit 2014 ist die Beratungsstelle Extremismus eine österreichweite Anlaufstelle für Angehörige von Personen, die mit extremistischen Gruppierungen und Weltbildern sympathisieren, für Personen, die sich davon distanzieren wollen sowie für MultiplikatorInnen, die in ihrem beruflichen Umfeld mit dem Thema Extremismus konfrontiert sind. Die Beratungsstelle ist Ansprechpartnerin für alle Arten von Extremismen, seien sie religiös argumentiert oder politisch begründet. Sie bietet eine österreichweite kostenfreie Helpline (0800 20 20 44), persönliche Beratungsgespräche, fachliche Beratung und Begleitung von MultiplikatorInnen sowie Fort- und Weiterbildungen an.
Hier gelangen Sie zu weiteren Themenschwerpunkten
[1] Anmerkung: der Verdacht einer Radikalisierung im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen wurde von den kontaktaufnehmenden Personen selbst definiert/genannt.
[2] Eine Person ruft mitunter für mehrere Personen an, z.B. können beide Elternteile Verschwörungstheorien anhängen.
[3] In der Präventionspraxis wird häufig zwischen Primärbetroffenen (selbst Betroffenen) und Sekundärbetroffenen (Umfeld) unterschieden. Primärbetroffene glauben also selbst an Verschwörungstheorien.
[4] https://blog.gwup.net/2021/01/24/neue-studie-die-querdenker-wer-nimmt-an-corona-protesten-teil-und-warum/ und https://osf.io/preprints/socarxiv/25qb3/
[5] Ebd.
[6] Cluster sind Kategorien, die aufgrund gemeinsamer Merkmale erstellt wurden. Z.B. wurde dem Cluster „biographische Brüche“ der Tod eines Angehörigen, eine Erkrankung oder auch Suchtverhalten zugeordnet.
[7] Z.B. Rechtsextremismus und QAnon oder Arbeitslosigkeit und biographische Brüche.
[8] Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Beltz. Weinheim/ Basel.
[9] Fabris, Verena / Reicher, Fabian (2021): Extremismus in Österreich – eine (kritische) begriffliche Einordnung. In: SIÖ 4/2021. S. 15-18.
[10] Christmann, Gabriela B. et.al (2014): Zur sozialwissenschaftlichen Konzeption von Vulnerabilität und Resilienz. In: Endreß, Martin/ Maurer, Andrea (Hg.): Resilienz im Sozialen. Theorietische und empirische Analysen. Springer VS, Wiesbaden. S. 123-149
[11] Fabris, Verena (2019): Jung, radikal, extrem? Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen aus der Perspektive der Beratungsstelle Extremismus. In: Krobath, Thomas et al. (Hg.): Nun sag, wie hast du’s mit der religiösen Vielfalt? Zwischen Konflikt und Kompetenz in Kindergärten. Schulen und Jugendarbeit. LIT Verlag,Wien. S. 121-132.
[12] Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Parteien, Politikern und Herrschaftssystemen
[13] Spirituelle Denk-bzw. Glaubensmuster, starke Religiosität
[14] Darunter fallen etwa Kritik an der Flüchtlingspolitik (Stichwort „Großer Austausch“), Holocaust-Leugnung, Vergleiche der Corona-Maßnahmen mit dem Nationalsozialismus etc.
[15] Das meint einen (drohenden) Jobverlust aufgrund der Corona-Maßnahmen.
[16] Lockdown, Home-Office, stark verminderte soziale Kontakte
[17] Finanzielle Probleme aufgrund der Corona-Maßnahmen (Einkommen, Miete, Ersparnisse o.ä.)
[18] Z.B. stoffgebundene und stoffungebundene Sucht, Krankheit, Tod von nahen Angehörigen, Gewalt in der Familie, (psychische) Erkrankungen
[19] Nocun, Katharina / Lamberty, Pia (2020): Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Köln, Quadriga Verlag.
[20] Wir sprechen hier etwa von Ungleichwertigkeitsvorstellungen als Kernelement extremistischer Ideologien.
[21] Dabei spielten vor allem antisemitische Codes wie New World Order, Banken- und Zinssystem, die „Great Reset“ Erzählung sowie die „Markierung“ von zentralen Personen (wie Bill Gates) als Jude und Jüdinnen eine große Rolle. Shoa Relativierungen durch Shoa-Vergleiche wurde durch die Identifizierung als „neue Juden/Jüdinnen“ vor allem durch das Tragen von Davidsstern weiterentwickelt und in die Erzählung eingebaut.
[22] Bezug zur Identitären Bewegung, „Großer Austausch“ bzw. „Umvolkung“, Heimatschutz aufgrund externer Bedrohung
[23] Personenkult, Kriegs- und Vernichtungsindustrie sowie Holocaust-Leugnung
[24] Staatsverweigerung, Ablehnung der Verfassung, Selbstwahrnehmung als Reichsbürger
[25] Sich der QAnon Bewegung zugehörig fühlen oder als Teil der Bewegung definiert; QAnon verbreitet seit 2017 Verschwörungserzählungen mit rechtsextremem Hintergrund. Eine der zentralen Erzählungen lautet, dass eine Elite Kinder entführe um aus ihrem Blut einen Stoff zu gewinnen, der das Leben verlängert.
[26] Als „Prepper“ (von engl. to prepare, sich vorbereiten) werden Menschen bezeichnet, die sich auf Katastrophen vorbereiten, indem sie etwa Konserven oder Waffen horten und sich um Notfallpläne kümmern. In der rechtsextremen Szene geht es dabei in vielen Fällen um einen „Tag X“, bei dem die staatliche Ordnung z.B. durch Terroranschläge oder einen Putsch zusammenbrechen soll. Ein aktuelles Beispiel ist der Sturm aufs Capitol am 6.Jänner 2021 in Washington.
[27] Beratungsstelle Extremismus (2021): Handreichung: Umgang mit Verschwörungserzählungen in der eigenen Familie
[28] https://www.beratungsstelleextremismus.at/category/themen/
[29] https://www.beratungsstelleextremismus.at/podcast/